Zwei Schritte vor, drei zurück?

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Die verkehrspolitische Grundposition der Regierung Rüttgers lautete, dass Nordrhein-Westfalen über ein engmaschiges Verkehrswegenetz verfügt und es daher nicht primär um dessen Ausbau, sondern um dessen Instandhaltung und Optimierung sowie Lückenschlüsse gehe. In Zeiten knapper Haushaltsmittel müsse zudem der Mitteleinsatz optimiert werden, um mit den zur Verfügung stehenden Geldern ein Maximum für die Nutzer zu erreichen. Die Umsetzung genau dieses Grundsatzes muss ­jedoch kritisch hinterfragt werden, wie wir am Beispiel des aktuellen Verkehrsbedarfsplans sehen werden. Dabei versuchten die schwarz-gelben Koalitionäre ihrer ideologisch motivierten tendenziellen Favorisierung der Straße ein wissenschaftliches Deckmäntelchen umzuhängen. Hierzu kam ihnen ein noch von der alten rot-grünen Vorgängerregierung angeschobenes Forschungsprojekt gerade recht: die Integrierte Gesamt-Verkehrsplanung (IGVP).

Die Integrierte Gesamt-­Verkehrsplanung (IGVP)

Obwohl es mit dem GVFG und seiner Standardisierten Bewertung ein allseits anerkanntes und hoch gelobtes Instrument zur Begutachtung von Verkehrsprojekten gibt, gaben SPD und Grüne im Jahre 2000 die Entwicklung eines neuen Bewertungsverfahrens in Auftrag, mit dessen Hilfe künftig ÖPNV- und Straßenbauprojekte direkt miteinander verglichen werden sollten. Das Ziel war eine stärkere Berücksichtigung der raumplanerischen und verkehrsträgerübergreifenden Aspekte. Die IGVP sollte den Bedarfsplan Schiene aus dem Jahr 1998, der durch die Ergebnisse der Kommunalwahl ohnehin zu einem Großteil Makulatur geworden war, vor dem für 2015 angesetzten Ende seiner Laufzeit ablösen. In der IGVP wurden alle Infrastrukturprojekte einzeln bewertet und anschließend miteinander verglichen. Für jedes Projekt wurden eine Kosten-Nutzen- und eine Nutzwertanalyse durchgeführt. Bei letzterer werden mit Hilfe eines Punktesystems verschiedenste Einflüsse bewertet und anschließend gegeneinander gewichtet. Neubewertet wurden nicht nur die meisten noch nicht realisierten Projekte des 1998er Bedarfsplans Schiene, sondern auch von den Aufgabenträgern neu eingereichte Vorhaben.

Die Ergebnisse wurden erst im ­De­zember 2005, also nach dem Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb, veröffentlicht und passten gut in das verkehrspolitische Konzept der neuen Landesregierung: Die ÖPNV-Projekte schnitten nämlich bei der Neubewertung erheblich schlechter ab als die Straßenbauvorhaben. Die meisten Schie­nenverkehrsprojekte erreichten nach der neuen Bewertungsmethodik der IGVP nicht den für eine Förderung erforderlichen Nutzen-Kosten-Quotienten (NKQ) von mindestens 1,0.
Auch die meisten in den Bedarfsplan Schiene von 1998 bereits aufgenommenen ÖPNV-Projekte fielen durch. Der Unterschied zwischen den alten und neuen NKQ ist oftmals frappierend: So wurde z.B. die Verlängerung der Essener Straßenbahnlinie 105 von Frintrop zur Neuen Mitte Oberhausen im Rahmen der Standardisierten Bewertung mit einem NKQ von 4,41 bewertet, während die IGVP diesem Projekt nur einen sehr geringen volkswirtschaftlichen Nutzen bescheinigte und nur einen NKQ von 0,08 (!) vergab.
Eine erhebliche Anzahl der alten und neuen Ausbauvorhaben kommt in der IGVP nicht einmal auf einen positiven Nutzen-Kosten-Quotient, wäre also volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Die Nutzwertanalyse erbrachte u.a. das erstaunliche Ergebnis, dass nahezu alle Schienenprojekte aufgrund negativer Auswirkungen auf die Umwelt sehr schlechte Noten erhielten, während den meisten Straßenbauprojekten weniger negative Umweltfolgen attestiert wurden.

Bernhard Martin (wird fortgesetzt)

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