Vorsicht, bremst kurz!

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Am 20. April 1969, einem Sonntag, begann der fahrplanmäßige Linieneinsatz auf der Linie 3. Groß war die Überraschung bei Fahrgästen und Autofahrern! Diese wurden immerhin mit einem am Heck angebrachten Schild »Vorsicht! Bremst kurz!« gewarnt. Doch das hinlänglich bekannte Schild im Wageninnern »Festhalten, besonders beim Durchfahren von Kurven« nahm niemand mehr so recht ernst. Es erhielt nun eine völlig neue Bedeutung ob der bis dahin unbekannten Dynamik der Triebwagen beim Anfahren und Bremsen.

Halteschlaufen wie in den alten Straßenbahnen gab es nicht, und die unter der Decke verlaufende Haltestange rechtzeitig zu ergreifen schaffte nicht jeder Fahrgast. Das gab ein großes Hallo während der Fahrt! Und dennoch war die Begeisterung der Magdeburger so groß, dass es anfänglich schier unmöglich war, in einen der als Solowagen zwischen Diesdorf und Leipziger Chaussee verkehrenden Tatra-Wagen hineinzugelangen.

Im Laufe weniger Jahre verdrängten die modernen Tatras die alten Straßenbahnen von den Gleisen. Denn mit den Bahnen aus der Vorkriegszeit und auch mit den LOWA- und Gotha-Wagen aus DDR-­Produktion konnten die MVB keinen ­Produktivitätsschub erreichen, um den ­Anforderungen des innerstädtischen Nahverkehrs gerecht zu werden. Schließlich mussten täglich Tausende Menschen von ihren Wohnungen zu den Arbeitsstätten und zurück gebracht werden. Ab 3. Juni 1978 fuhren die MVB ja typenrein mit Tatra-Zügen, übrigens als erster Betrieb in der DDR! Insgesamt erhielt der Verkehrsbetrieb zwischen 1969 und 1986 die stolze Anzahl von 274 T4D und 142 B4D.

Fast »wie 1969«

Am 18. April 2009 fuhren, begleitet vom Blitzlichtgewitter zahlreicher Fotofans, drei Fahrzeuge in das Stumpfgleis in der Hartstraße: der historische Gotha-Triebwagen 413, der historische T4D-Tw 1001 und der noch im Linieneinsatz stehende T6A2-Triebwagen 1276. Der Gotha-Wagen des Typs T2-62 stand hier stellvertretend für die Fahrzeuge herkömmlicher Bauart, die durch die Tatra-Züge (T4D und B4D) nach und nach ersetzt wurden.

Absolutes Highlight: Aktion »Babicka«

Nachdem bereits der Saisonauftakt auf ein breites positives Echo gestoßen war, überlegte man im Verein, wie beim Museumswochenende im Spätsommer 2009 noch ein Höhepunkt »draufzusetzen« wäre.

Aus einer Laune heraus entstand eine Idee der drei Vereinsvorstände Heiko Kiep, Andreas Martini und Ralf Kozica. Und sie nahm wie im Märchen von der Straßenbahn Therese, dem kleinen Frantik und seinem Onkel Fiala (siehe Kasten) konkrete Formen an: »Wir möchten gern zum Tatra-Jubiläum die ‚Großmutter aller Tatra-Wagen’, den Triebwagen des Typs T1, aus Prag holen und zum Museumswochenende durch die Stadt fahren lassen«. Nach anfänglichen Bedenken fanden auch der Geschäftsführer der MVB und seine Abteilungs- und Betriebsleiter diese Idee ganz und gar nicht mehr abwegig.

Vorsichtig fragte der IGNah-Vereinsvorstand beim Direktor des »Museums des Öffentlichen Personennahverkehrs in Prag«, Milan Pokorny, an, ob der T1-Museumstriebwagen Nr. 5002 für ein Tatra-Museumswochenende auszuleihen wäre. Und dann war es plötzlich passiert: Nach kurzem Briefwechsel und einem Besuch beim Prager Museumsdirektor war die Begeisterung bei allen Beteiligten derart groß geworden, dass sich eine Aktion mit unaufhaltsamer Eigendynamik entwickelte. Das tschechische Wort für »Großmutter« wurde Programm: Codename »Babicka«.

Übrigens erhielt der Verein auch aus Ostrava – mit dem dortigen Verkehrsbetrieb verband die MVB zu sozialistischen Zeiten eine freundschaftliche Beziehung – eine positive ­Antwort. Letztlich war aber der kürzere Transportweg für die Entscheidung ausschlaggebend, den T1 aus Prag auszuleihen.

»Tatra-Großmutter« T1

Der Tatra T1 basiert auf der Konstruktion des PCC-Wagens, der eine Entwicklung der großen US-amerikanischen Straßenbahngesellschaften darstellt. In den 1920er-Jahren mussten  diese auf die bereits starke Automobilkonkurrenz reagieren und ihre oft noch aus der Anfangszeit der elektrischen Straßenbahn stammenden Fahrzeuge zu ersetzen. Die Präsidenten der bedeutendsten Gesellschaften initiierten aus den Erfahrungen und den Anforderungen ihrer Betriebe die Konstruktion eines neuartigen Wagentyps, der unter Verwendung der Abkürzung des Gremiums »Presidents Conference Commitee« PCC-Wagen genannt wurde.

Wichtigste Merkmale dieses Fahrzeugs waren eine selbsttragende Leichtmetallkarosserie, vier schnelllaufende Motoren mit Kardanantrieb, leichte, elastische Drehgestelle (wegen des teilweise sehr schlechten Unterbaus) und ein pedalbedienter stufenloser Fahrschalter sowie optional die Möglichkeit des Mehrfachtraktionsbetriebes.

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siehe Bildunterschrift
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