Tatras, Meer und ­Mittelalter

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Als die Stadt 1989 die 500.000 Einwohner-Marke erreichte, beförderte die Tram  nicht weniger als 108 Millionen Fahrgäste, die mit T4SU-Doppeltraktionen und solofahrenden KT4SU an ihr Ziel gebracht wurden. Angesichts dieser enormen Frequenz gab es bereits ab Ende der 1960er-Jahre Pläne für Netzerweiterungen sowie für eine Tunnelstrecke im Innenstadtbereich, diese mussten aber stets aus Kostengründen sowie wegen des ungeeigneten Untergrundes verworfen werden.

Erneuerung mit ­Gebrauchtwagen

Seit der Unabhängigkeit Estlands geht es sukzessive bergab mit den Einwohner- und Fahrgastzahlen und 2007 beförderte die Straßenbahn nur noch 26,4 Millionen Fahrgäste in einer Stadt, die noch knapp 400.000 Einwohner zählte. Trotz des stetig sinkenden Wagenbedarfs musste sich der Verkehrsbetrieb in den wirtschaftlichen sehr schwierigen Jahren nach der Wende Gedanken über einen passenden Ersatz für die T4SU machen. Durch das große Angebot an gebrauchten KT4D eröffnete sich die Möglichkeit zur Schaffung eines einheitlichen Wagenparks und von 1996 bis 2005 konnten 20 Fahrzeuge aus Gera, Cottbus und Frankfurt an der Oder übernommen werden. Diese ersetzten sämtliche noch in Betrieb befindlichen T4SU, die letztmalig am 15. Mai 2005 im Linienbetrieb anzutreffen waren. Seit 2006 nahm der Verkehrsbetrieb TTTK (Tallinna Trammi- ja Trollibussikoondise AS) noch weitere 32 KT4D aus Erfurt in Betrieb, die eine ebenso große Anzahl an älteren KT4SU entbehrlich machten. Die Wagen erhielten in den 1990er-Jahren in den Werkstätten der EVAG eine umfangreiche Modernisierung, die unter anderem den Einbau von Duewag-Falttüren, die Neugestaltung des Fahrgastraumes samt gepolsterter Sitze, den Einbau eines neuen und beheizbaren Fahrersitzes sowie die Installierung von Punktmatrix-Zielanzeigen umfasste. Zum Unterschied von vergleichbaren Modernisierungsprogrammen anderer deutscher Verkehrsbetriebe blieb allerdings die originale Beschleuniger-Steuerung erhalten.

Moderne Technik und ­Niederflurkomfort

Die Modernisierung des Wagenparks erfolgte aber nicht nur durch die Anschaffung von gebrauchtem Wagenmaterial, sondern von 2000 bis 2004 stattete der Verkehrsbetrieb auch 22 KT4SU (Nr. 96–99, 101–105, 107–110, 113–115, 117, 119–123) und fünf KT4D (125, 126, 129–131) mit einer IGBT-Thyristorsteuerung aus, die von der Technischen Universität Tallinn entwickelt wurde. Da die Umrüstung mit dem Einbau einer Fahrerplatz-Klimaanlage einherging und diese in einem eigenen Dachaufbau untergebracht ist, sind die technisch verbesserten Fahrzeuge an diesem Merkmal zu erkennen. Zwölf dieser Wagen erhielten außerdem ein Niederflur-Mittelteil mit zwei ­Ein­zelradfahrwerken von MGB/Schindler/ FIAT-SIG, wie es auch in Cottbuser und Brandenburger Fahrzeugen zum Einbau gelangte. Die Wagen des neuen Typs KTNF6 entstanden in der betriebseigenen Werkstätte der TTTK, wobei die Wagen 107 und 123 im Jahr 2001 und die restlichen ­(siehe Wagenparkliste) 2004 umgebaut wurden. Da der KTNF6-Prototyp 107 nach einem Unfall am 28. Februar 2006 ausgemustert ­werden musste, fanden das Niederflur-Mittelteil, die Thyristorsteuerung und die Fahrerplatz-Klimaanlage im ex-Erfurter Wagen 148 Verwendung, der in seiner neuen Heimat gleich als KTNF6 in Betrieb genommen wurde.

Ein buntes Erscheinungsbild

Heute verkehren die vorhandenen Fahrzeuge in dem Mitte der 1990er-Jahre eingeführten Farbschema Blau/Weiß, mit Totalwerbung oder aber mit gut erhaltenem, rot/weißen Erfurter Lack. Aus Kostengründen werden nämlich seit geraumer Zeit keine Neulackierungen mehr durchgeführt. Dem Sparkurs des Unternehmens fiel auch die HVZ-Linie 5 (Vana-Louna – Kopli) zum Opfer, die im Oktober 2000 als Direktverbindung zwischen der Pärnu maantee und Kopli eingeführt, jedoch Anfang 2004 wieder eingestellt wurde. Der jüngste »Coup« in dieser Richtung war die Ende 2009 erfolgte Degradierung der Linie 3 zur HVZ-Linie. Für den Betrieb werden zur Zeit maximal 43 Triebwagen benötigt, wobei die Linien 1, 2 und 4 alle sechs bis acht Minuten und die Linie 3 in Neun- bis Zwölf-Minuten-Intervallen verkehren. Auf den Linien 1 und 2 gibt es je einen und auf der Linie 4 zwei ausgewiesene Niederflurkurse, auf letzterer Linie sind aber meist bis zu sechs KTNF6 anzutreffen. Nach wie vor existieren Ausbaupläne, wobei jene zu der im ­Osten gelegenen Satellitenstadt Lasnamäe sowie zum Flughafen (an der Tartu maantee im Südosten der Stadt) recht konkret ausgearbeitet sind. Zuletzt wurde zwecks Umsetzung Kontakt mit einem chinesischen Unternehmen aufgenommen.

Wolfgang Kaiser

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